Erschienen in der Sächsischen Zeitung am Sonntag, 2004.
Wie fühlen Sie sich nach dem ersten halben Jahr als ‚Wahl-Sachse‘?
Marzin: Nach wie vor fühle ich mich gut. Leipzig ist eine sehr liebenswerte Stadt und Sachsen wirkt superdynamisch. Und bei der Messe sitze ich mittendrin. Wir leben natürlich in einer Zeit, in der Deutschland Höhen und Tiefen durchläuft. Eine Zeit, in der die Weichen neu zu stellen sind. Als Messe müssen wir zusätzliche Bereiche wie das Auslandsgeschäft erschliessen – und vor allem schnell sein.
Vor einem halben Jahr klangen Sie noch euphorischer, als Sie über eine internationale Neuausrichtung sprachen?
Marzin: Die Rahmenbedingungen haben sich im letzten halben Jahr nicht wesentlich verändert. Im Gegenteil. Wir als Messeplatz sehen seit dem ersten Mai eine Chance durch die Neuausrichtung Europas und die Integration weiterer Mitgliedsstaaten davon zu profitieren – und das haben wir bereits getan. Nun müssen wir weitere Auslandsgeschäfte erschliessen. Es ist zwar ein wenig grösser, als wir erwartet hatten, aber alle Mitarbeiter sind bestens motiviert.
Ist nach der Landtagswahl nicht eher Ernüchterung eingetreten?
Marzin: Wir haben zwar den Rückenwind durch Europa, aber es kommen auch Fragen von ausländischen Kunden nach der sächsischen Landtagswahl wie: „Was ist denn da los, was passiert nun? Welche Rückschlüsse sind auf ausländische Ansiedlungen und auch für Besucher und Aussteller zu ziehen? Sind wir überhaupt noch willkommen in Sachsen?“
Registrieren Sie nach dem Rechtsruck in Sachsen bereits erste Stornierungen?
Marzin: Nicht von Ausstellern, aber wir hatten unmittelbar nach der Landtagswahl Stornierungen von Besuchern, zum Beispiel aus der Türkei. Solche Entscheidungen folgten aber meist spontan. Und je weiter weg, desto erklärungsbedürftiger ist das Eine oder Andere. Da sehen Besucher oder Aussteller eine Headline in der New York Times wie ‚Rechtsruck in Deutschland‘, sind verunsichert und fragen nach.
Kann die Messe – trotz Wahlergebnis – ihre wirtschaftlichen Erfolge aus dem ersten Halbjahr behaupten?
Marzin: Als Messe können wir nach den ersten neun Monaten in diesem Jahr eine positive Bilanz ziehen, haben bei vermieteter Ausstellungsfläche und Besucherzahlen erfreulich zugelegt. Das gilt sogar für Regionalmessen, die sich deutschlandweit auf einem Rückwertstrend befinden. Gleiches gilt auch für internationale Veranstaltungen, die wir selber oder als Gastveranstalter durchführen wie die Orthopädie- und Reha-Technik. Wir haben Messen dazu gewonnen wie die ‚Dach und Wand‘, die grösste europäische Messe für das Dachdeckerhandwerk, dann eine Weltmesse für Zeitungs- und Digitaldruck, nicht zu vergessen die Games Convention GC, die europäische Leitmesse für Computerspiele, die sich zur Weltmesse entwickelt. Anfragen aus aller Welt bestätigen den Trend bei der GC, selbst in China ist diese Messe bekannt.
Vor kurzem fand in Leipzig ein grosser Kardiologen-Kongress statt. Messemitarbeiter haben quasi bis zum Umfallen gearbeitet. Sind Messe und Region an ihre Grenze gestossen?
Marzin: Gerade solch eine Grossveranstaltung wie der internationale Kardiologen-Kongress mit 5000 Teilnehmern führt zu einer nicht alltäglichen Grenzbelastung für Messe und Stadt. Das betrifft selbst die Taxi- und Busfahrer.
Aber Leipzig verfügt über kaum über Bettenkapazitäten in 4- oder 5-Sterne-Hotels, vom Flughafen und mangelnden internationalen Verbindungen mal abgesehen …
Marzin: Alle Hotels waren ausgebucht, die Flugverbindungen völlig überlastet. Und die Leipziger Vekehrsbetriebe hätten uns ruhig etwas mehr Kapazitäten zur Verfügung stellen können. Nicht nur die Messe, auch die Infrastruktur stiess an ihre Kapazitätsgrenzen. Das Kongresszentrum ist derzeit aber nur punktuell ausgelastet und wir können personell auf solche Spitzen schnell reagieren. Aber sind erst nur vereinzelt Spitzen. Räumlich überlegen wir zur Zeit, wie wir künftig auf solche Veranstaltungen dauerhaft reagieren können.
Was müsste nach Ihrer Ansicht der Leipziger Flughafen oder die sächsische Hotelbranche dazu beitragen?
Marzin: Eine schwierige Frage, wie mit der Henne und dem Ei. Setzen wir mehr Flüge ein, bringt dies mehr Besucher und Aussteller zu uns? Oder holen wir mehr Gäste und können dann erst Flüge und Hotelkapazitäten planen? Es wäre tatsächlich wünschenswert, wenn der Leipziger Flughafen mehr angeflogen würde. Die Lufthansa hat eine starke Position. Sie hat ihre grossen Hubs wie Frankfurt oder München und setzt nur zusätzliche Kapazitäten ein, wenn entsprechend garantierte Buchungen vorliegen. Wenn wir als Messe im Vorfeld sagen: Da findet bald ein Kardiologen-Kongress mit X-Teilnehmern statt, stellt mal zusätzliche Flieger zur Verfügung, dann funktioniert das leider nicht. Die Lufthansa will eine betriebswirtschaftliche Garantie, was aber wiederrum nicht geht. Wir haben – wie wir alle wissen – viele Flughäfen in der Region und würde uns als Messe wünschen, dass hier die Kräfte konzentriert werden. Es gibt Dresden und Leipzig…
Soll der Dresdner Flughafen zugunsten Leipzig geschlossen werden?
Marzin: Nein, natürlich nicht. In beiden Städten ist viel Industrie angesiedelt und beide Flughäfen haben ihre Berechtigung. Es gibt aber deutschlandweit keine Region mit sovielen Flugplätzen in solch einem kleinen Radius. Es wäre schön, wenn sich zum Beispiel die Lufthansa auf einen Standort konzentrieren würde und die Investion für den Standort im Vordergrund steht. Wir müssen alle das grosse Bild, das Gesamtbild im Kopf behalten: „Was ist für Sachsen, für die Region vorteilhaft?“ Also nicht Mikro-, sondern Makrodenken. Das ist in der Globalisierung umso wichtiger, weil wir als Messe auch Kunden in Übersee haben, die sich als Aussteller fragen: Wie ist die Infrastruktur in Sachsen? Im Zeitalter der Globalisierung ist ein regionaler Wettbewerb bei der Infrastruktur untereinander eher hinderlich.
Stichwort ‚Regionaler Wettbewerb‘. Auch die Dresdner und Leipziger Messe machen sich regional eher schädliche Konkurrenz, schnappen sich untereinander Messen weg?
Marzin: Ja. Die Leipziger Messe ist aber traditionell der Platzhirsch in Sachsen, wenn es um grosse Messen geht. Thematische Überschneidungen bei Regionalmessen wird es immer geben. So mussten die Dresdner Kollegen ihre Antiquitätenmesse absagen, weil zeitlich eine Kunst- und Antiquitätenausstellung bei uns stattfand und weiter stattfinden wird.
Warum sprechen Sie dann – Sachsen zu liebe – nicht miteinander?
Marzin: Was in der Vergangenheit war, weiß ich nicht. Unter meiner Geschäftsführung werden wir dies bei Regionalmessen künftig machen. Wir sind als öffentliches Unternehmen auch dazu angehalten, die Kräfte zu konzentrieren und alle Synerergieeffekte zu nutzen, was für alle auch Kosteneinsparungen mit sich bringt.
Und die Leipziger Messe konzentriert sich dann auf welche internationalen Regionen? China?
Marzin: Das ist ja nur ein Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck. Wir liegen mit unseren nationalen und regionalen Messen gut im Rennen wie mit den Publikumsmessen Haus-Garten-Freizeit, der Automobilmesse AMI oder der Games Convention und auch mit Fachmessen. Wir wollen die Region auf gar keinen Fall zugunsten des Auslandsgeschäfts vernachlässigen. Im Gegenteil. Wir wollen ausländische Besucher, Aussteller und Gastveranstalter nach Sachsen holen. Unser allerhöchste Priorität sind internationale Märkte, denn nur da sind neue Märkte. Die Region kennt jeder. Auch die Leipziger Messe kennt jeder sächsische Aussteller als Marketinginstrument. Wenn noch nicht, dann will er nicht.
Warum liegen die Chancen für Sachsen im Ausland?
Marzin: Im Ausland ist mehr Potential an Besuchern und das gilt für alle deutschen Messeaussteller, denn die deutsche Wirtschaft lebt hauptsächlich vom Im- und Export, beispielsweise im Maschinenbau, in der Schuh- oder Spielzeugindustrie. Und hier wollen unsere einheimischen Aussteller internationalen Kunden auf unseren Messen finden. Und dieses Messegelände ist predistiniert, auch überregionale und internationalen Messen durchzuführen. Und auch die Dachmarke ‚Leipziger Messe‘ ist weltweit bekannt.
Damit liegen Sie auf einer Wellenlänge mit den Wirtschaftsdezernenten aus Leipzig und Dresden?
Marzin: Auch die Städte positionieren sich überregional, BMW kommt aus Bayern, AMD aus den U.S.A., … Wir wollen überregionale Investoren nach Sachsen holen. Flankierend organisieren wir Messen im Ausland, aber der Wirtschaftsstandort Sachsen steht immer im Vordergrund. Und im Auslandsgeschäft erreichen wir mit unserer Service-Qualität, die bei deutschen Ausstellern nach einem Service-Check der Zeitschrift impulse auf Platz eins steht, auch neue Kunden für die einheimischen Aussteller. China und der mittlere Osten können neue Märkte sein. In Osteuropa sind wir traditionell vertreten, als Marke bekannt, verfügen über ein Netz von Auslandsvertretungen. Und jede grosse Auslandsmesse gibt die Möglichkeit, auf den heimischen Standort hinzuweisen. Als Leipziger Messe konzentrieren wir uns auf unsere Stärken wie Zuliefermessen, Publikumsmessen im Bereich Automobil wie der AMI oder Modemessen, aber auch mit Themen wie Energie- und Umwelttechnik kennen wir uns gut aus.
Sehen Sie die Messe in erster Linie als wirtschaftspolitisches Förderinstrument für Sachsen?
Marzin: Ja, absolut. Wir sind ja alleine durch unsere Gesellschafter Stadt und Land zum überregionalen Denken, zum regionalen Makro- statt Mikrodenken, angehalten. PR für die Stadt und die Messe strahlt auf die gesamte Region ab.
Wie wir erfuhren, sind Sie dabei, viele arabische Besucher nach Leipzig zu locken?
Marzin: Wir haben in Saudi-Arabien mit erfolgreicher PR-Arbeit begonnen. Erstes Ergebnis: Es kündigen sich zahlreiche arabische Besucher an. Die Messe hat dort einen guten Namen. Wir haben als Messe dort bereits eine Veranstaltung mit deutscher Beteiligung organisiert. Und wir wollen in den nächsten zwei Wochen eine Niederlassung in Dubai eröffnen. Und daraus hat sich ergeben, dass wir die Veranstalter der Deutsch-Arabischen Wirtschaftswoche, die bisher in Niedersachsen stattfand, überzeugen konnten, nach Leipzig zu kommen. Es soll auch ein grosses Rahmenprogramm geben, wie ein Kamelrennen auf der Leipziger Pferderennbahn im Scheibenholz. Leipzig und Sachsen werden so auch als Wirtschaftsstandort bekannter in der arabischen Welt. Und wir hoffen auf Messen und Ausstellungen, und natürlich auf Ansiedlungen in Sachsen.
Welche neuen Messeprodukte bieten Sie demnächst an?
Marzin: Die europäische Leitmesse „Dach und Wand“ kommt in diesem Jahr von Berlin nach Leipzig. Neu ist auch die „Agrar“, die von Markleeberg zu uns kommt. Es hat lange gedauert und darüber freuen wir uns sehr. Und wir modifizieren Themen, so zum Beispiel haben wir einen Spezialbereich ‚Fahrrad‘ auf der ‚Haus-Garten-Freizeit‘ im nächsten Jahr. Wir arbeiten noch an zwei bis drei Gastveranstaltungen zu ganz heissen Themen …
Verraten Sie uns mehr zu neuen Megaevents auf dem Kongressgelände?
Marzin: Aus vertraglichen Gründen mit Gastveranstaltern kann ich derzeit noch nicht mehr sagen. Nur soviel: Wir erwarten auch im nächsten Jahr wieder tausende Besucher zu einer Grossveranstaltung. Von einer Religionsgemeinschaft aus Übersee.
2006 trägt Leipzig Spiele zur Fussball-WM aus. Wie profitiert die Messe?
Marzin: Die FIFA ist unser ständiger Gast. Die Auslosung der Endrundenpaarungen findet ja auch in der Glashalle im Dezember 2005 statt. Wir sind ganz intensiv dabei, dieses Megeaspektakel vorzubereiten, das von Millionen Menschen in der Welt verfolgt wird und Leipzig und Sachsen noch bekannter machen wird. Wir hoffen als Messe auch, dass wir parallel stattfindende Gastveranstaltungen ausrichten können, Standbau und Catering inklusive, aber hier ist noch keine Entscheidung gefallen.
Eine Messe als regionales Förderinstrument. Müssen Sie denn überhaupt Gewinne machen?
Marzin: Dauerhaft schon. Andererseits machen nur die Messen langfristig Gewinne, die kein eigenes Messegelände besitzen und nur Gastveranstaltungen ausrichten. Die Leipziger Messe ist durch den Willen ihrer Gesellschafter ein Förderinstrument und wir müssen Gewinn oder Verlust immer im Verhältnis sehen, zu dem was die Region durch die Messe an Umsatz macht. Ein Beispiel: Nach einer IFO-Studie betrugen die Folgewirkungen von Kongressen und Tagungen im Jahr 2002 schon 29 Millionen Euro, insgesamt erreichten die soziökonomischen Effekte einen Wert von 251 Millionen Euro für die Region. Und rund 4000 Arbeitsplätzen hängen daran.
Wann wollen Sie dann jemals Gewinne erzielen?
Marzin: Als Profit Center peilen wir Gewinne an, aber es wird dauern. Ich möchte mich nicht auf einen Zeitpunkt festlegen. Es hängt von zuvielen Faktoren ab. Wir sind als Fachmesseveranstalter auch erst seit 13 Jahren im Markt. Andere deutsche Messen haben an Grossveranstaltungen verdient, die teilweise in den 50er und 60er Jahren von den deutschen Verbänden initiiert wurden. Wir sind dagegen noch ein junges Kind, nicht mal volljährig und kommen gerade in die Pubertät. Und das gilt für den ganzen Standort. Wirtschaftlich betrachtet.
Alle müssen sparen. Was für einen Dienstwagen gönnen Sie sich?
Marzin: Einen Audi A8. Ich würde auch einen A6 nehmen, um damit zirka 200 Euro Steuern zu sparen. Nur versuchen Sie mal, dass unseren arabischen Geschäftspartnern zu erklären, die noch ganz andere Limousinen gewohnt sind. Die Kosten niedrig zu halten, dazu sind wir ja alle gezwungen, aber wir dürfen nicht am falschen Ende sparen.
Danke für das Gespräch. Das Interview führte Jürgen Christ.
Welches sind Ihre drei hauptsächlichen Charakterstärken?
Marzin: Geradlinigkeit, Menschenkenntnis und Offenheit.
Wann siedeln Sie mit Ihrer Familie nach Sachsen?
Marzin: Hier in Leipzig lebe und arbeite ich bereits seit Januar. So meine 65 bis 80 Stunden in der Woche. Aber ich bin ein überzeugter Familienmensch und plane mit meiner Frau für Sommer 2005, ein Haus in Leipzig zu mieten. Bei uns reden aber noch drei kleine Kinder mit. Ich persönlich möchte langfristig in Leipzig arbeiten. Man erhält im Leben auch nicht so oft die Chance, Chef der Leipziger Messe zu werden.
Wie hält sich ein Manager für derartige Belastungen mit 40 fit?
Marzin: Morgens mit joggen, und in der Freizeit mit Snowboarden, Skifahren, Tennis und Fahrradfahren. Zum geistigen Ausgleich gehe ich gerne ins Theater.