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‚Elektronische Demokratie‘ – Visionen einer futuristischen Kaufgesellschaft

30. April 2009

Idee und Text von Juergen Christ und Cathrin Guenzel unter Mitwirkung von Wau Holland, CCC (+ 2002). Der Artikel wurde 1992 in der Leipziger Volkszeitung veröffentlicht.

Dieser Artikel ist meinem verstorbenen Freund Wau Holland gewidmet.

 

„Wollen Sie die totale Demokratie?“ A.Schickelgruber lacht in die Kamera, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Im Arm den drall-blonden Volksliedstar Eva Gruen. „Woll…“ Eine Hand faellt auf die Tastatur, schaltet den Ton weg. Ein mueder Blick auf die Uhr: punkt acht. Herbert steht auf. Wie jeden Morgen weckt ihn sein Volkscomputer. Lautlos bewegen sich die Figuren ueber die Mattscheibe. Der Kandidat Wolfgang Kuehnen erscheint im Bild. Seit Wochen tobt der Wahlkampf auf allen Kanaelen. Herbert geht ins Bad. Eine halbe Stunde spaeter weckt er Katharina, seine Frau. Gemeinsam sehen sie sich die allmorgendliche Verkaufs-Spielshow an. Dann muss sie ins Satellitenbuero. Herbert wartet zu Hause auf seine Auftraege. Seit zehn Jahren arbeitet er als Verkaeufer fuer das Grossunternehmen Digitel. Der Volkscomputer ist zugleich sein Tele-Arbeitsplatz. Kommen keine Anfragen, schaltet er sich ins Allgemeine Programm (AP), zwischen Spielfilm und „Ohne Preis kein Fleiss“ findet sich immer ein gutes Kommunikations-Spiel. Beide haben wie Millionen andere Paare keine Kinder.

Katharina nimmt den Bus. Am anderen Ende der Stadt, in der zwoelften Etage eines modernen Gewerbehochhauses, haben sie und drei andere Frauen sich nach der europaeischen Wirtschaftswende in einem gemeinsamen Buero eingerichtet. „Hallo, Kati!“ toent es ihr entgegen. „Morgen Mona.“ Kati nimmt vor ihrem Bildschirm Platz und blaettert die Mailbox, den „elektronischen Briefkasten“ durch. Alles wie immer. Nachbarschaftsbueros waren eine US-amerikanische Erfindung der 70er Jahre.

Frauen und Männer getrennt – wie in „1984“

Im Zuge der Frauenemanzipation entwickelten sie sich immer mehr in Richtung Geschlechtertrennung. Das leidige Thema „Belaestigung am Arbeitsplatz“ war damit vom Tisch. Arbeit wurde zum Mittelpunkt. Privates interessiert nicht. Klatsch und Tratsch richten sich hoechstens gegen die maennlichen Lieferanten, die sich einmal taeglich sehen lassen. Fuer eine amerikanische Grossfirma arbeiten Kati und die anderen drei Frauen an der weiteren Vereinfachung der Volkscomputer-Tastatur.

Das Geraet, das in den letzten zwanzig Jahren alle Haushalte eroberte, hat vier Tasten:“Kauf Ich“ (blau), „Kauf ich nicht“ (rot), „Information“ (Gelb), „Dialog“ (gruen) sowie eine Kugel zur Steuerung des Cursors (Suchanzeige auf dem Bildschirm) auf verschiedene Menue-Positionen, zum Beispiel „Briefkasten“, „Arzt“, „Versicherung“, „Geld“. „Ohne unser Geraet“, so der Werbeprospekt der Firma, „ist Ihre Demokratie nicht mehr lebensfaehig“.

„Zumindest koennte ich nicht so bequem arbeiten“, denkt Herbert, bunte Bilder von gluecklich telefonierenden Menschen betrachtend. Ploetzlich piept es. Herbert nimmt den Hoerer des Smartphones: „Kunde 1848, dritte Strasse rechts. Geht klar.“ Er packt Mobiltelefon mit Notebook zusammen, steigt ins Firmenauto und startet. Das Auto hustet und bleibt still. „Verdammt, ich muesste mal wieder den Monteur anwaehlen!“ denkt Herbert. Endlich springt der Wagen an. Zwanzig Minuten spaeter, das Display zeigt „Stau, ein Kilometer voraus“. Herbert greift zum Hoerer: „Hallo Chef, es wird etwas spaeter…“ dann krachts. Kleiner Unfall, Herberts Wagen ist in einer Absperrung haengengeblieben. Polizei ist am Ort. Drei Minuten danach, Herbert faehrt weiter, ist das Strafmandat per E-Mail bei ihm zu Hause. Automatisch landet es in der Abteilung „Geld“ und wird, nach europaeischer Verordnung EV-3476-XEW/1345/99, elektronisch abgebucht.

Mittags, er hat drei Service-Auftraege erledigt, sie einen halbseitigen Bericht geschrieben, treffen sich Herbert und Kati bei FastFood’s. Freunde sind da, sie unterhalten sich ueber die letzte Verkaufsshow und die naechste Europawahl. Nach einer halben Stunde verabschieden sie sich: „Wir telefonieren!“ Einmal in der Woche machen sich alle zusammen einen schoenen Abend. Sie vernetzen ihre Volkscomputer und spielen gemeinsam bei „Harrys Spieleparadies“. Oder lassen sich zum Privat-Telefonforum einen Politiker des aktuellen Wahlkampfes zuschalten.

Die US-Präsidenten von morgen?

Seit ein texanischer Milliardaer im Jahre Null der elektronischen Zeitrechnung versuchte, politische Diskussionen in Computernetzen und Telefonsystemen durchzufuehren und damit die US-Wahl zu gewinnen, horchten die Politiker aller Laender auf. Damals scheiterte er. Doch seine Idee blieb in den Gehirnen. Eine kleine Berliner Kommunikations-Agentur griff die Idee auf und entwickelte ein umfassendes System der elektronischen Wahlkampfunterstuetzung mit dem „Volkscomputer“. Doch die demokratischen Parteien zoegerten. Wie vom Donner geruehrt harrten sie der Zukunft: Terroranschlaege extremistischer Organisationen erschuetterten das Vor-vereinigte Europa und der Hass befand sich auf dem Vormarsch. Die Bevoelkerung wurde zunehmend unzufriedener. Die Berliner Agentur ging mit ihrer „Entwicklung des Ueber-Lebens“ hausieren. A.Schickelgruber sah seine Chance. Er griff zu und katapultierte sich mittels elektronischem Wahlkampf und ueber Glasfaser vernetzten Debatten an die Macht.

Politik wurde zur Unterhaltung der Massen

Kati und Herbert standen dem Bildschirm-Rummel zunaechst skeptisch, aber tatenlos gegenueber. Politik wurde zur Talk-Show. Wer die besten Fragen stellte, stand ganz oben auf der Hitliste. Die Volkscomputer-Hersteller kamen mit der Produktion kaum nach, denn der Bedarf war riesig. Endlich war ein neuer Zeitvertreib fuer die Bevoelkerung gefunden, die so ihren Frust abreagierte: Jeder konnte sich per Tastendruck „Dialog“ in laufende Sendungen einklinken, Informationen aus dem Politikerleben holen und schliesslich ueber die Zukunft des Staatsmannes entscheiden: „Kauf ich“/“Kauf ich nicht“. Die Shows wurden live in allen Laendern Europas ausgestrahlt. „Wollt Ihr die totale Euro-Demokratie?“ – der Volkspartei-Slogan Schickelgrubers fand eine knappe Mehrheit. So beschlossen die Europaeer ihren Zusammenschluss und den Bau einer elektronischen Mauer gen Ost und Sued. Schickelgruber wurde erster Eurokanzler der Geschichte. Kati und Herbert gewoehnten sich daran. Und auch die anderen Parteien machten grosse Fortschritte.

Die europaeische Entwicklung liess die Grossfirmen der Welt aufhorchen – was fuer die Politik galt, musste auch fuer andere Bereiche des Lebens gelten. Die Vision einer elektronischen Kauf-Gesellschaft ward geboren. Die bisherige Zeitrechnung wurde ausser Kraft gesetzt. Man rechnete nun in Bit-Jahren. Die Abschaffung des europaeischen Geldmonopols und die Einfuehrung der „E-Card“ (einer Art Kreditkarte) durch private Unternehmen war die zwangsweise Folge der Entwicklung.

Die Abschaffung des Terrors

Terroranschlaege, Ueberreaktionen und Lebensdramen gab es seitdem kaum noch – jede Gruppe bekam ihre Mailbox. Aggressive Gedanken werden in den Volkscomputer eingehackt oder bei Telefonforen abreagiert und verschwinden einfach im Netz. Auslaenderfeindlichkeit gehoert der Vergangenheit an. Viele unberechtigt in Europa lebende Auslaender wurden nach der letzten grossen Euro-Einwohner-Zaehlung gefasst, bei der es um die Einfuehrung eines elektronischen Hauskontrollbuches ging. Grenzverletzungen werden per Satellit live uebertragen und alarmierten selbst organisierte Buergerwehren. Anfaengliche haessliche Gewaltszenen, die das Ansehen Europas schaedigten, entfielen mit der Einfuehrung automatischer Sammelkaefige an den Grenzen. „Und nun die Nachrichten. Wiederum Grenzverletzer gestellt. Wie die zustaendige Behoerde mitteilte…“, Herbert stellt das Autoradio leise, denkt „Jeden Tag dieselben Nachrichten“. Er ist gerade auf dem Heimweg und ueberquert mit leicht ueberhoehter Geschwindigkeit die letzte Kreuzung vor seinem Wohnblock. In wenigen Minuten beginnt der „Grosse Gluecksdreh“. Ausserdem will er noch, wie immer vor dem Essen, seine Fax-Zeitung mit den fuer ihn wichtigsten Meldungen des Tages zusammenstellen – Sport, Tratsch ueber die Europarlament-Kandidaten des Jahres und ein bisschen Wohngebietspolitik fuer sich selbst, die letzte Rede der Euro-Ministerin fuer Emanzipation und ein paar Wissenschafts-News fuer Kati. Endlich angekommen. Herbert will gerade aussteigen, als im Radio eine Sondermeldung durchgegeben wird. Er dreht voll auf: „Wie die amtlich genehmigte Nachrichtenagentur mitteilte, gab es im Atomkraftwerk Titan nahe der Grenze einen kleinen Zwischenfall. Ein Arbeiter kam durch Stickstoff ums Leben. Der Betrieb des Werkes wurde nicht gestoert, die Stromversorgung der Bevoelkerung nicht gefaehrdet.“ Mit einem Seufzer der Erleichterung wirft Herbert die Tuer ins Schloss.

Was wäre wenn, wenn sich Menschen das 1936 gefragt hätten?

Kati hat schon Essen bestellt, „Der grosse Gluecksdreh“ laeuft seit ein paar Minuten, als Herbert die Wohnung betritt. Zwischen Waschcomputern und Kuechenmaschinen grinst der Moderator freundlich in die Kamera: „Bleiben Sie auf Kanal 35, wir sind gleich zurueck! Jetzt erst mal fuer ein paar Minuten Politik!“ Der zehnte Praesidentschaftskandidat dieses Tages laechelt in die Kamera. Kati rollt den Cursor am Bildschirm entlang, auf die Position „private Auskunft ueber den Kandidaten“: 3 Kinder, zweimal geschieden, drei Affaeren… „Wollen Sie Glueck, Zufriedenheit, Wohlstand?“ fragt der Kopf im Computer,“Dann druecken Sie…“ Herbert weiss schon, was jetzt kommt. Sein Finger visiert die Tasten an:“Kauf ich nicht“. Der „Grosse Gluecksdreh“ geht weiter. Irgendwann in der Nacht gehen Kati und Herbert zu Bett. Im Hintergrund plappert lustig das Fernsehprogramm. Zufrieden schlafen sie ein. Nur manchmal quaelen sie Traeume: was waere gewesen, wenn sie sich anders entschieden haetten? Wenn Schickelgruber nicht gekommen waere? Wenn wir alles ernster genommen haetten? Wenn wir in die Entwicklung eingegriffen haetten? Wenn…

Danke für die Anregungen an Wau Holland (CCC) und Anke Fuchs (SPD, MdB), die wir 1992 trafen.

… / Teil –2-

TEIL – 2 – „Elektronische Demokratie“
Elektronischen Mediengesellschaft heute – 1992

TELEARBEIT

Telearbeit ist die Ausuebung von Funktionen ausserhalb der Unternehmen mittels Computern und Telekommunikationsnetzen, die einen Zugriff auf zentrale Datenbestaende (Text, Daten, Bild und Sprache) ermoeglichen. Rund 70 Prozent aller Arbeitsplaetze sind nach einer Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) telefaehig und koennten in den eigenen vier Waenden ausgeuebt werden. Nicht ganz so optimistisch sieht das eine deutsche Studie, von der Telekom und dem Land Berlin in Auftrag gegeben: sie schaetzt, dass in 30 Jahren etwa 5 Prozent aller Arbeitnehmer ortsunabhaengig vom Unternehmen arbeiten werden, in Branchen wie Banken oder Versicherungen koennten es bis 20 Prozent werden. Die starke Umweltbelastung durch zunehmenden Autoverkehr und Verkehrsinfarkte in den Staedten sowie ein starker Drang der Arbeitnehmer zu mehr Flexibilitaet verstaerken den Trend jedoch, so die Forscher. In den USA enstanden bereits zu Beginn der 80er Jahre Siedlungen mit telearbeitsfaehigen Wohnungen.

TELEFAX, TELEX, TELEGRAMME…

Telefax, oft nur zum „Fernkopieren“ benutzt, ist eine der Telematikdienstleistungen mit dem groessten Wachstum. Waehrend die alten Fernschreiber nur noch in den Laendern ohne Hochtechnologie (wie der „Dritten Welt“) eine Bedeutung haben werden, da sich diese Staaten nur den Schrott der Hochtechnologielaender leisten koennen, sind die Teilnehmerzahlen der konventionellen Kommunikationsdienste im Westen ruecklaeufig. Mit der anhaltenden Deregulierung der westlichen Fernmeldemaerkte werden auch traditionelle Dienste – beispielsweise der Telegramm-Verkehr durch private Anbieter abgewickelt. Die Deutsche Bundespost Telekom hat kurz vor der zweiten Postreform bereits Dienste wie Teleauskunft oder Telegramm freigegeben, eine Aufloesung des Telefonmonopols steht kurz bevor. Zynische Stimmen behaupten, dass Telegramme kuenftig von grossen Medienkonzernen ueber deren Datennetze nur noch fuer Senioren abgewickelt werden, da diese Zielgruppe mit den bahnbrechenden Entwicklungen nicht mehr mithalten kann. In Deutschland existieren 1,2 Millionen registrierte Telefax-Anschluesse, da sich jedoch Computer- mit Telefax-Technik verbinden laesst, liegt die Dunkelziffer wahrscheinlich weitaus hoeher.

COMPUTER

Computer werden aufgrund neuer Technologien und starkem Preisverfall immer mehr zur multimedialen Kommunikationsmaschine. Neben den Standardanwendungen Textverarbeitung oder Datenspeicherung bieten Computer heute Sprachspeicherung mit elektronischem Schnittplatz fuer unter 3 000 Mark oder ein Videomischpult fuer rund 4 000 Mark. Im Jahre 1991 wurden in Europa etwa 8,3 Millionen PCs verkauft, darunter ueber eine Millionen tragbare Computer. Tragbare Notebooks in DIN-A4-Blattgroesse bieten heute neben allen Funktionen ihrer groesseren Brueder auch digitale Audioaufzeichnungen von etwa 90 Minuten – und das fuer unter 2 000 Mark. Fuer kommende Generationen werden Computer so selbstverstaendlich sein wie ein Fernsehen oder eine Hifi-Anlagen. Der Informatikunterricht zaehlt heute bereits in vielen Schulen zu den Standardfaechern.

„1984“

George Orwells grosser, mit Richard Burton verfilmter Roman dient vielen Menschen, darunter auch Politikern, als Angstmacher-Argument, wenn es um die Einfuehrung neuer Technologien geht. Dabei scheint es fast so, dass gerade diese Menschen das Buch nicht richtig gelesen und verstanden haben. „1984“ ist keine Hasstirade gegen Technologie, sondern gegen deren Missbrauch, gegen Technokratie und gegen den Missbrauch von Informationen. Ein Leben ohne Technik in der Industrie, der praktischen Medizin oder dem Umweltschutz ist angesichts einer Weltbevoelkerung von mehreren Milliarden Menschen nicht mehr denkbar.

TELEFON

In drei Jahren wird das Telefon in der Westentasche so selbstverstaendlich sein, wie die Uhr am Handgelenk. Unter einer einheitlichen Rufnummer sind die Mobilfunkteilnehmer der digitalen Netze dann in ganz Europa – vom Nordkap bis Sizilien erreichbar, ob auf Geschaeftsreise oder im Urlaub. Die digitalen D-Netze – in Deutschland von der Telekom und Mannesmann Mobilfunk im letzten Sommer in Betrieb genommen – sind in Ost- und Westdeutschland auf fuenf Millionen Teilnehmer ausgelegt. Mit diesen Telefonen ist eine 24-Stunden-Kommunikation nicht nur in der Wirtschaft und im Privatleben moeglich: auch die Politik wird sich angesichts der sich haeufenden Katastrophen und Meinungsschwankungen immer haeufiger dieser Mittel bedienen. Heute verfuegen nur wenige Privilegierte, wie Bundeskanzler Kohl oder vor einem Jahr noch der saechsische Ministerpraesident Kurt Biedenkopf, ueber Satellitentelefone, die fuer sechsstellige Geldsummen erhaeltlich sind. In Deutschland existieren derzeit 34 Millionen Telefonanschluesse – 31,5 Millionen im Westen, 2,5 Millionen im Osten.

ELEKTRONISCHE POST, MAILBOX

Die Gebuehren der Bundespost fuer die Briefbefoerderung steigen unaufhoerlich. Experten rechnen damit, dass in zehn Jahren ein Brief etwa zehn Mark kosten wird und die staatliche Befoerderung auf Kosten der Bevoelkerung erheblich subventioniert werden muss. Hinzu kommen: Wachsende Mobilitaet, die Anforderung an die Integration verschiedener Informationsarten wie Bilder, Sprache oder Daten, der Drang nach Vertraulichkeit und Personenorientierung bereitet E-Mail einen Siegeszug, der alle bisherigen Kommunikationsdienste in den Schatten stellen wird. Zur Zeit liegt die Anzahl der sogenannten E-Mail-Teilnehmer weltweit bei 15 Millionen Menschen, Tendenz stark steigend, da sich jeder Computer fuer knapp 100 Mark zum elektronischen Briefkasten (Mailbox) erweitern laesst.

POLITIK

Selbstbedienungsmentalitaet, Buerger- und Realitaetsferne Entscheidungen und Machtgier der Politiker fuehrten in den vergangenen Jahren in westlichen Laendern immer mehr zur Unzufriedenheit der Waehler. Rechtsexperten der regierenden Parteien dachten in Deutschland bereits im Fruehjahr 1992 ueber eine Wahlpflicht unter Strafandrohung nach. Wachsende Bereitschaft zur Gewalt ist zu einem Ausdruck der Nicht-regierbarkeit der Buerger geworden. Da einzelne Buerger mehr und mehr resignieren, sich ihre Kraefte und das Engagement auf die Mitarbeit in privatwirtschaftlichen Unternehmen und Non-Government-Organisationen wie Greenpeace konzentrieren, ist zu erwarten, dass die Politik bald nur noch durch den freien Wettbewerb bestimmt wird, wie es der amerikanische Apple-Chef John Sculley in einem Spiegel-Interview im Oktober 1992 formulierte. Amerikanische Politiker – oder besser deren Berater und Manager – erkannten den neuen Trend und fuehrten zur Praesidentschaftswahl 1992 einen Wahlkampf, der nur durch elektronische Hilfsmittel entschieden wurde. Im amerikanischen Computersystem „Compuserve“ – dem mit ueber einer Millionen Nutzern groessten Systeme fuer Computerdienstleistungen per Telefon – fuehrten Bush oder Clinton in elektronischen Foren ihren Dialog mit den Waehlern, waehrend Ross Perot den Begriff des `Electronic Town Hall Meeting“ praegte: den Aufbau eines elektronischen Rathauses, in dem sich die Politiker im Fernsehen bei grossen Entscheidungen treffen und die Buerger per Telefon und Heimcomputer teilnehmen koennen.

TELESHOPPING

Immer mehr Versandhaeuser oder Konsumartikelproduzenten setzen auf Teleshopping: das Einkaufen zu Hause mit Hilfe elektronischer Kommunikationsmittel. „Cocooning“ ist in. Verkaufsshows im Fernsehen stellen die Produkte vor, Telefon, Fax oder andere Technik ermoeglicht dem Zuschauer das Bestellen der Ware. Branchenkenner schaetzen den Umsatz mit Hilfe von Bildschirmtext des Versandhauses Quelle auf ueber 300 Millionen Mark pro Jahr. Die Verkaufsshows der Privatsender haben hoehere Einschaltquoten im Westen als alle Politdiskussionen.

DIGITALES FERNSEHEN

Die europaeische Gemeinschaft setzt mit Projekten fuer hochaufloesendes Fernsehen auf das falsche Pferd. Meinen zumindest die Skandinavier, Amerikaner und Japaner. Unlaengst stellten die nordischen Forscher ihr digitales verbessertes Fernsehkonzept vor. Einzigartige Produktionsmoeglichkeiten, erhebliche Funktionserweiterungen der Geraete in den Haushalten, drastische Kostensenkung und der hohe Integrationsgrad weiterer Dienstleistungen wie ferngesteuerte Talk-Shows, die in den USA bereits in Betriebsversuchen ueber analoge Netze laufen, werden das Fernsehen zu einem interaktiven Medium gestalten: Der heute noch passive Zuschauer wird damit zum Regisseur. Waehrend sich an der Groesse heutiger Bildschirme nicht viel aendern wird, wird in der Elektronik zu dem Empfaenger ein Sender hinzukommen, Tastaturen, Mikrofone oder Fotokopierer, die das interaktive Arbeiten erst moeglich machen. Auch in Deutschland gab es waehrend der vergangenen „Documenta“ in Kassel erneut einen Feldversuch zum interaktiven Fernsehen. Die Hamburger Kuenstlergruppe „Ponton European MediaLab“ experimentierte mit dem interaktiven Fernsehprojekt „Piazza virtuale“ auf 3sat. Per Bildtelefon, Telefon, Fax und Datenmodem wurden die Teilnehmer zu einem Live-Programm zusammengeschaltet (Musik, Schule, Marktplatz, Caf ). Sie konnten unter der Leitung des unsichtbaren Techno-Regisseurs Karel Dudesek malen, musizieren – oder sich blamieren.

Artikel veroeffentlicht in Auszuegen in der Leipziger Volkszeitung (LVZ), Journal 1/93 – sowie als Originaltexte auf dem CCC‘ 93 in Hamburg

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Titelfto von Wau: Struppi.