Unternehmerfamilien sind wie Adelshäuser: Sie verpflichten zu Tradition. Christian Blüthner-Haessler übernahm in fünfter Generation die Geschäfte der „Blüthner Pianofortefabrik“ in Leipzig und führte sie gemeinsam mit Familie nach der Wende wieder zu internationalem Erfolg.
Erschienen 2009 in der Unternehmerzeitschrift ProFirma.
von Jürgen Christ und Cathrin Günzel
Christian Blüthner-Haessler hatte keine Wahl. Vor 14 Jahren erreichte den jungen Arzt und Lebemann ein mütterlicher Hilferuf aus Leipzig. Das Familienunternehmen im damals gerade „ausgrauenden“, bunter werdenden Osten brauche ihn. Dabei hatte er sich gerade in der Schweiz eingelebt – toller Job als aufstrebender Mediziner in einem Krankenhaus, Skigebiet vor der Nase und eine frische Liebe. Doch Blutsbande war stärker. Der damals 30-Jährige eilte in die alte Heimat. Heftige Diskussionen mit Vater Ingbert folgten, Sohn Christian stand vor der Wahl: Arzt oder Familientradition. Schließlich fuhr er in den Baumarkt, kaufte Farbe und malerte sein neues Chefbüro in der ehrwürdigen „Julius Blüthner Pianofortefabrik“, an der Tür prangte das neue Namensschild: „Geschäftsführer“ – in fünfter Generation.
Gemeinsam mit Bruder Knut, gelernter Klavierbaumeister, und Vater Ingbert als „spiritus rector“ führten sie das Unternehmen zurück in die Zukunft – an die Weltspitze, wo der einstmals größte europäische Klavierbauer im 19. Jahrhundert schon einmal war. Wie so ein Familienbetrieb zusammenhält? „Mein Bruder ist der klassische Handwerker mit goldenen Händen. Ich bin forscher, kommunikationsfreudiger und treffe schnell Entscheidungen“, sagt Christian. „Mein Vater ist die Schnittmenge zwischen uns.“ Doch allen dreien ist klar: „So ein Schiff verträgt nur einen Mann am Steuer.“
Brahms mit Gewitterwolken
Die 1853 gegründete Instrumentenmanufaktur sitzt heute in einem sachlichen Zweckbau, acht Kilometer vor den Toren von Leipzig. Das triste Industriegebiet Großpösna trifft so gar nicht das Klischee von Bohème und Muse. Ein graues Sportwagen-Cabrio versperrt den Eingang zu einer Holz- und Glaskathedrale. Dass hier die Musik spielt, vermutet der Besucher nicht. Der „Showroom“ der Blüthners ist einem Konzersaal nachempfunden, um den Klang der edlen Flügel nicht zu verderben. Ein rund 1,90 Meter großer gelockter, attraktiver Mann fläzt sich in den Sessel, schwingt ein Bein über die Lehne und lächelt lausbübisch. Er redet klar, schnell und direkt, zum Beispiel über den Web-Auftritt der Blüthners ? wie seine Klaviere im Internet rüberkommen, hat er selbst in die Hand genommen. Chefsache, wie so vieles. „Ich bin ungeduldig, nichts geht mir schnell genug, ist gut genug“, sagt der 44-Jährige und gesteht seinen Hang zum Perfektionismus. „Ich bin leidenschaftlich und wenn ich mich ärgere, haue ich auch mal auf den Tisch“, gibt er zu, „Ich glaube, dass man ohne Leidenschaft nie richtig gut ist in dem, was man macht. Man muss sich freuen, aber auch ärgern können.“ Das sei wie in der Musik: „Nicht nur schön und leicht wie Mozarts Flötenkonzerte, sondern auch ein wenig Brahms mit Gewitterwolken.“
Der letzte Mohikaner
Auf den ersten Blick wirkt Blüthner-Haessler junior kaum wie der Boss einer altehrwürdigen Fabrik, die „Lebensfreude verkauft“, wie er es formuliert. Der Wert „Familientradition“ ist für ihn eher Verkaufsargument. Modernisierung, Veränderung, modernes Marketing, Globalisierung sind seine Schlagworte. Dabei hatte der Urologe nach Abitur und Militärdienst ursprünglich ganz andere Lebenspläne. Im sozialistischen Leipzig aufgewachsen, kam für ihn eines damals auf keinen Fall in Frage: Im elterlichen Betrieb arbeiten, der 1972 verstaatlicht wurde und einer der umsatzstärksten Devisenbringer der maroden DDR-Volkswirtschaft war. Er sehnte sich nach Abenteuer und Freiheit, wollte ein Fach studieren, das über politische Systemgrenzen hinweg anerkannt würde: „Entweder Architektur oder Medizin. Ich wollte nicht der letzte Mohikaner auf dem Schiff sein.“ Durch die Architektur-Aufnahmeprüfung rauschte er mit Pauken und Trompeten: „Meine Zeichenmappe ließ arg zu wünschen übrig“, gesteht er heute. Also Medizin. Der Mauerfall kam zur richtigen Zeit. Drei Stunden nach Grenzöffnung, stand er mit dem Trabbi am Checkpoint, den Kofferraum voller Benzinkanister. Auf nach Göttingen, zum Weiterstudieren. Doch er wollte mehr. Parallel schrieb er sich an der Fernuniversität Hagen ein, studierte BWL. „Wenn ich während der Nachtdienste als Assistenzarzt mal Ruhe hatte, standen Marketing und kaufmännisches Rechnen auf meinem Plan.“ Nach dem Examen ging er nach London, arbeitete am Krankenhaus King’s College. Kurze Zeit später zog es ihn in die USA, danach in die Schweiz. Dort ereilte ihn der Anruf der Mutter.
Instrumentenbauer statt „Gott in Weiß“. Klaviere, Flügel, klassische Musik – dies alles wollte zunächst gar nicht zu dem neuen Firmenchef passen. „Bis zum 14. Lebensjahr hatte ich Klavierunterricht. Dann brach ich mir zum Glück den Arm“, lächelt er lausbübisch. Seine Klavierlehrerin konnte er gar nicht leiden, weil „die sich nicht wirklich Mühe gab, mir das Klavierspiel nahe zu bringen.“ Der Teenager interessierte sich mehr für Mädchen als für Musik. Doch seine strenge Mutter entließ ihn erst in die Freizeit, wenn die Klavierstunden beendet waren. Obwohl internationale Starpianisten und Dirigenten im Haus seiner Eltern ein und aus gingen, sprang der Musik-Funke lange nicht über. Als er klein war, wunderte er sich nur: „Auf den Covers der Schallplatten prangten Fotos der Leute, die auf unserem Sofa saßen.“ Und er staunte auch, dass sein eigener Familienname auf dem Konzertflügel stand: „Als Dreikäsehoch fragte ich meine Klavierlehrerin ‚Sagen Sie mal, warum steht denn an Ihrem Klavier nicht Ihr Name?'“
Blüthner – Ein Begriff für neues Leipziger Bürgertum
Erst während des Studiums entdeckte er seine Liebe zur Musik und übte in der Studentenbude – nicht immer zur Freude der Mitbewohner. Noch immer gerät Christian Blüthner-Haessler förmlich in Trance, wenn er die Tasten eines 100.000 Euro teuren Blüthner-Flügels mehr streichelt als anschlägt. Der pragmatische Unternehmer, der in Klangwelten abtaucht. Doch zu viele kleine Fluchten kann er sich nicht leisten, trägt Verantwortung für rund 400 Mitarbeiter weltweit – davon knapp 100 in Leipzig – und ist Geschäftsführer von Niederlassungen in London, Paris, Moskau, China und den USA. Der heutige Präsident der deutschen Klavierbauer läuft erfolgreich in den Fußstapfen seines Ururgroßvaters Julius. Und er schmiedet weiter am Musikkonzern: Zur Pianofortefabrik gesellen sich inzwischen das Plattenlabel Blüthner Records sowie zahlreiche Klavierschulen weltweit. Seine Vision: Leipzig als künftige Stadt des Bürgertums etablieren – zurück zu den Blütezeiten Ende 19., Beginn des 20. Jahrhunderts. Leipzig als Musikstadt, das Bachfest neben Bayreuth und Salzburg.
„Würde man Flügel mit Autos vergleichen, ist ein Blüthner ein Rolls Royce“, schrieb einst die Financial Times London. „Ein großes Kompliment“, freut sich Autoliebhaber Christian Blüthner-Haessler. Seine Produktlinie der Flügel und Klaviere umfasst heute drei Marken: Blüthner im Luxussegment, Haessler im mittleren Bereich und Irmler als „Billigmarke“ – „der VW-Käfer unter den Klavieren.“ Sein Bollwerk gegen den Angriff chinesischer Billigheimer. Seine zweite Speerspitze im globalen Wettbewerb: Ein eigener Laden in der Han Zong Road, dem Zentrum von Nanjing. Die gesamte Blüthner-„Flotte“ auf 350 Quadratmetern. Schon am Eröffnungstag im Oktober 2007 waren alle Flügel und Klaviere ausverkauft. Ein gutes Omen.
Misstöne einer neuen Zeit: Gewerkschaften
In seinen Fabrikationshallen bei Leipzig entgeht dem Boss nichts. Werksfremde identifiziert er sofort – wen er mit Privatbesuch erwischt, bekommt einen Rüffel. Stolz inspiziert er die neuesten Pakete, Bestimmungsort Übersee. Aus bis zu 3.000 Einzelteilen besteht ein Flügel. Bevor er seine Reise in die Welt antritt, wird jeder Hammer, jeder Filz, jede Saite akribisch untersucht. Die letzte Hürde, die ein echter „Blüthner“ auf dem Weg zum Konzertsaal nehmen muss, ist die „Qualitätskontrolle“ – das Stimmen. Fünf bis sechs Mal wird jeder neue Blüthner-Flügel in eine der elf Stimmkabinen geschoben.
Doch Misstöne kommen für Christian Blüthner-Haessler nicht aus seinen edlen Instrumenten: Seine Mundwinkel verziehen sich, entdeckt er IG-Metall-T-Shirts in seinen heiligen Hallen. Das lässt er sich, ganz in Adelsmanier, zwar nicht anmerken – man muss schon genau hinsehen, um zu entdecken: Der Chef ist stinksauer. Vor zwei Jahren wurde seine Pianofabrik zum ersten Mal in ihrer Geschichte bestreikt. Ein Greuel. „Schauen Sie sich das Unternehmertum in Deutschland an: Lohnnebenkosten, Berufsgenossenschaften, Gewerkschaften, Arbeitsrecht. Vergleichen Sie dazu England und Maggie Thatcher, die hat die Gewerkschaften entmachtet.“ Menschen, die nicht begreifen, dass Globalisierung Tribut fordert, kann er nicht leiden. Trotzdem versprach er 2007 Tariflohn – und brach sein Wort wieder. „Gute Bezahlung für gute Arbeit ist keine Frage gesetzlicher Regelungen.“ Blüthner-Haessler bevorzugt Vertragsfreiheit zwischen Arbeitgebern und Angestellten. So ist er auch kein Freund des Mindestlohns – der ist für ihn „Hindernis“ und „keine Werbung für den Standort Deutschland“. Die Gewerkschaften sehen das naturgemäß anders: Sie kritisieren den Grundlohn von 7,25 Euro, inklusive Leistungsaufschlag seien es durchschnittlich 9,16 Euro. Knapp 18.0000 Euro Jahreseinkommen seien etwa ein Viertel weniger als der aktuelle Flächentarif. Doch die Arbeitszeit bei Blüthner sei zwei Stunden länger und der Urlaub zwei Tage kürzer. Keine vermögenswirksamen Leistungen, kein Weihnachtsgeld, kein zusätzliches Urlaubsgeld. Poetische Gewerkschaftler widmeten dem Herrn Blüthner gar ein Gedicht: „Der Doktor Chef, der gut verkauft, in Moskau guten Schampus sauft. Eine Million setzt er dort um. In nur 4 Tagen. Da guckst Du dumm. Von der Million ist nichts zu sehn, wenn wir zum ALDI kaufen gehen.“
Der Kontostand bei der ‚Flensburger Bank‘
Den Unternehmenslenker interessiert dies wenig. Die Anspielung auf Russland und die Milliardärsmesse vor drei Jahren in Moskau könnte er mit einem Lächeln quittieren: Dort verkaufte er binnen weniger Stunden sechs Flügel. Ein Milliardär, in dessen Datscha bereits ein weiß-goldener „Louis XIV“-Flügel steht, orderte eine Sonderfertigung aus 24-Karat-Blattgold und Platin für 130.000 Euro. „Die Flügel sind für seine Frau, eine sehr gute Pianistin“, erzählt Blüthner-Haessler. Wie einst in Zeiten des Zaren sind die Blüthner bei russischen Reichen wieder „in“. Eine Reminiszenz an diese Zeit: Das Modell „Nikolaus II.“ aus Nussbaum und Ahorn, extra für die Moskauer Milliardäre neu aufgelegt. Doch auch andere Größen griffen in Blüthners Tasten: Andrew Llyod-Webber, Stevie Wonder, die Beatles, Hollywood-Star Sandra Bullock, das englische Königshaus und sogar Peter Tschaikowsky. Der weiche Klang der Instrumente, so sagt die Legende, sei Ergebnis freundschaftlicher Beratung des Firmengründers durch Franz Liszt.
Der ganze Stolz des jetzigen Chefs ist seine neue Lackieranlage und ein kleines Heizkraftwerk für 500.000 Euro – „nicht um grünen Gedanken zu frönen, sondern weil es sich rechnet.“ Sein Unternehmen sieht er auf gutem Weg – schlaflose Nächte bereitet dem Ex-Partygänger jetzt seine fast zwei Jahre junge Tochter. Erst mit 42 hat Blüthner-Haessler geheiratet, nach wilden Jahren: „Ich fühlte mich immer getrieben, aber irgendwann kommt die Zeit, wo dieses Lotterleben ein Ende findet. Es relativiert sich einfach vieles, wenn Sie in die Augen der eigenen Tochter schauen. Dann ist es völlig egal, wie der Dollarkurs steht.“ Auch im Unternehmen kehrt Ruhe ein, nach Investitionen in eine neue Werkhalle wird Geld verdient: 2009 werden keine neuen Projekte gestartet, sondern die gewonnenen Potenziale ausgebaut. Und auch für Christian Blüthner-Haessler liegt in Leipzig mittlerweile sein Mittelpunkt: „Meine Konkurrenz muss noch eine ganze Zeit mit mir leben.“ Das graue Sportwagen-Cabrio vor dem Blüthner-Showroom steht zum Verkauf: Der Chef sucht nach einem Familienwagen. Das wird seinem „Flensburger Konto“ gut tun.
Das Blüthner-Imperium
Das Blüthner-Familienunternehmen erwirtschaftet rund 50 Millionen Euro Umsatz jährlich, den Löwenanteil im Exportgeschäft. Blüthner zählt zu den Top vier der deutschen Klavierbauer, eroberte sich im Hochpreissegment einen Nischenanteil im Weltmarkt und baut neben Steinway, einem börsennotierten New Yorker Unternehmen, die teuersten Flügel der Welt. Gegründet wurde die Pianofortefabrik 1853 von Julius Blüthner. Durch Heirat und Adoption eines Schwiegersohnes erhielt die Familie den Beinamen „Haessler“, heute die Marke im mittleren Preissegment, während die Marke „Irmler“ (bereits 1818 gegründet ) im Niedrigpreissegment angeboten wird. Die ursprüngliche Fabrik, ein Sägewerk, brannte im zweiten Weltkrieg völlig aus. 1966 übernahm Vater Ingbert die Fabrik, wurde 1972 vom DDR-Staat enteignet und erhielt das Unternehmen 1989 zurück. Seine beiden Söhne Christian und Knut traten 1995 in die Geschäftsleitung ein.