Mit einem zufriedenen Seufzer lehnt sich der Mann mit dem kräftigen Bauch in seinen Sessel zurück. Dabei springt ein Hemdknopf auf. Vor ihm: ein Foto von Schauspielerin Carre Otis, 24, zarte, kindliche Brüste und offene Jeans. Genüßlich saugt er an der dicken Zigarre, knöpft sein Hemd wieder zu und sieht fragend auf die große Uhr an der Decke. Es ist kurz nach eins im Hamburger AxelSpringer-Haus – zweite Redaktionskonferenz bei BILD. Noch sieben Stunden bis die schweren Rotationsmaschinen anlaufen, um Ausgabe 133 zu drucken. Claus L. streift seine Zigarre am Aschenbecher ab. Darauf steht: Chefredakteur.

Dieser Morgen hatte eher lau begonnen. Über 1000 Agenturnachrichten sowie Themenangebote aus den 19 BILD-Außenredaktionen sind schon über den L’schen Schreibtisch in einem von drei Papierbehältern gelandet. Darauf steht: Recycling. Mit einer handvoll Zigarren macht er sich wenige Minuten später auf den Weg zur ersten Redaktionskonferenz. Unter dem Arm: den Anzeigenplan. Dank vieler Inserate warten an diesem Donnerstag zehn redaktionelle Seiten auf seine Leser. Im Konferenzraum Rauchschwaden, Totenstille. Zwei Männer spielen mit Filzschreibern, ein anderer lehnt sich nach hinten und schließt die Augen. „Solingen liegt eine Woche zurück und Lolita ist ausgelutscht“, bemerkt ein Redakteur gelangweilt. Nachrichtenflaute. „SPD-Scharping rettet Autofahrer das Leben“. Ein Grauhaariger lakonisch: „Scharping hat das bestimmt arrangiert, so kurz vor der Wahl“. Allgemeines Gelächter.

Noch siebeneinhalb Stunden bis Redaktionsschluss. „Einen Tag nach der Japan-Hochzeit nochmal die vier Hochzeitskleider?“. L. zieht die inzwischen feucht angelutschte Zigarre aus dem Mund. „Wie vögeln eigentlich die Japaner?“, will einer wissen. Fragend sehen sich die zwanzig Männer an. „Treiben dies nicht genau wie wir?“. „Nein, ich glaub der Mann liegt immer mit teilnahmslosem Gesicht oben“, berichtet das Sportressort. Der BILD-Chef grinst. Er hebt die Zigarre wie einen Taktstock in die Lüfte, holt damit zum Grande Finale aus: „Find ich klasse, Kinder. Das Sexleben der Japaner! Will ich unbedingt lesen“. Anschließend Telefonkonferenz mit den Außenredaktionen. Susanne aus Berlin bietet für die „Japaner“ auch schon eine passende Schlagzeile an: „Mit Stäbchen – So treiben’s die Japaner.“ Wieder Gelächter.

Nach den Konferenzen Routinearbeit. Günter Q., stellvertretender Chefredakteur, hat an diesem Morgen bereits mehrere hundert Tote und Schicksale gesichtet, die meisten davon in einen dieser drei schwarzen Papierkörbe geworfen. So ruhig und gelassen wie die bunten Elefanten auf seiner Krawatte. Plötzlich stürmt ein Redakteur außer Atem in sein Büro: „Hast Du gestern Schreinemakers gesehen? Eine Solingen-Mutter will, daß ihr Sohn verbrannt wird“. Q. hebt andächtig den Zeigefinger: „Interessant!“ Hinter seinem Rücken verfolgt Churchills Konterfei das Geschehen. Vom Titel der ersten BILD-Zeitung grinst der tote Brite in die Runde.

Punkt 15 Uhr verwandelt sich der Konferenzraum im ersten Stock in eine Fabrikhalle. Producer und Layouter haben überall Scheren, Klebzeug oder Tipp-Ex ausgebreitet, die ersten Papierschnipsel fliegen auf den Boden. Auf einem steht: „Boris, du spinnst!“. Jeder der zehn Producer entwirft eine Seite, kreiert Flächen für Text und Fotos rund um die Anzeigen. Layouter machen die Feinarbeit. Vor Peter L., Chef vom Dienst, liegt die Seite zehn. „Die Mieze ist ganz auf meiner Seite“, murmelt der 46jährige und tippt auf die Brustwarzen von Carre Otis, deren Foto zwischen frischen Erdbeeren und Buntstiften liegt.

Noch zwei Stunden. BILD-Boss Claus L. pafft in kürzeren Intervallen. In Minutenabständen kommen jetzt eingekaufte Agenturtexte und hausgemachte Reportagen aus dem Drucker. L. überfliegt die Artikel, redigiert und verpackt sie mit den passenden Schlagzeilen. „Tennisarm durch Nintendo“ und „Boris bricht mit Deutschland“ kommen auf die Titelseite, denn mit hübscher Verpackung lassen sich schließlich fünf Prozent mehr Käufer gewinnen. Jemand vermißt den Dinosaurier-Text. „Die Dinos sind auf die fünf gewandert“, schreit ein Producer durch den Raum. „20 Zeilen Ozon für die drei?“. Peter L. prüft gerade den „Sekten-Skandal“. „Falsche Kommas entdecken unsere Leser eh nicht“, murmelt er vor sich hin. Zwei Räume weiter klebt Monteur Thomas G. mit flinken Fingern die nackte Carre neben „Shannen, das Biest“ und die „Pornospiele der Kinder Gottes“. Sein Atem riecht nach Rauch und Bier.

Fünf L.-Zigarren später, es ist 19:08 Uhr. Draußen hektischer Berufsverkehr. Im neonerleuchtetem Produktionsraum ist’s still geworden. Stolz wie ein Vater von Fünflingen hält L. die Titelseite hoch: „Kinder, ich glaub das ist ein gutes Blatt geworden.“ Morgen werden elf Millionen Menschen in der BILD lesen, was die „SolingenMutter“ auf Seite eins in fetten Lettern fordert: „Verbrennt meinen Sohn“. Nur weniger Zentimeter darunter eine Anzeige: „Billig in die Sonne … Für nur 637 Mark nach Mallorca.“


Eine meiner Abschlussarbeiten an der Akademie für Publizistik, Hamburg 1993. Die BILD-Zeitung aus der Sicht eines Kölner Journalisten, der in die Rolle von Günter Wallraff beziehungsweise Hans Esser geschlüpft war – und eine Homage an den Kollegen und die Kolleginnen und Kollegen. Mein damaliger Ausbilder, Chefreporter von GEO, machte Anmerkungen zu Stilblüten. Ich belasse es mal – mit seinen formalen Fehlern. Es ist eine Satire: Wie würde BILD über BILD schreiben?

Die Arbeit wurde zur besten Reportage des Jahrgangs (gemeinsam mit der einer TAZ-Volontärin) gekürt. Die Namen wurden in dieser Veröffentlichung anonymisiert und sind der Redaktion beziehungsweise den Kursteilnehmern der Akademie für Publizistik bekannt.

PS: Boulevardjournalismus ist ein hartes Handwerk – und hat sich bei der BILD in den letzten Jahren verändert und weiter entwickelt. Davor habe ich Respekt.